Was Neoliberalismus ursprünglich bedeutet.
Ein kleiner Exkurs in die Wirtschaftstheorie …
Ich gebe mich nicht der Illusion hin, mit einem Blogeintrag, die komplette deutsche Sozialdemokratie von der ideengeschichtlich falschen Nutzung des Begriffs „Neoliberalismus“ abzubringen. Aber der Tweet des hessischen Landtagsabgeordneten Stephan Grüger (siehe unten) und der anschließende Dialog bringt mich dazu, es doch zumindest punktuell zu versuchen.
Die neoliberale/neoklassische Ideologie ist mit ihrer naiv-vulgären Marktgläubigkeit totalitär, pro-monopolistisch und damit antiliberal.
— Stephan Grüger, MdL (@GruegerS) 5. Juni 2016
Im Tweet geht es darum, dass die „neoliberale Ideologie“ totalitär, naiv-vulgär-marktgläubig pro monopolistisch sei (Ich beschränke mich bewusst auf den Begriff „neoliberal“, da er der häufiger gebrauchte ist). Woher kommt der Begriff „neoliberal“ und was war „neo“ als neu am Neoliberalismus ist deshalb die Frage.
Neoliberalismus und Monopole
Ausgehend vom sogenannten Laissez-Faire-Liberalismus und klassischen Liberalismus werden erst von neoliberalen Theoretikern die Erfahrungen aufgenommen, dass privatwirtschaftliches Handeln, nicht immer zur effizienten Lösung führen. Klassische Beispiele sind natürliche Monopole, aber auch generell Monopole oder – wenn auch erst wesentlich später wirklich wirtschaftswissenschaftlich ausführlich ausgeleuchtet – externe Effekte bei öffentlichen Gütern. Kurz zusammengefasst: Während ein Laissez-Faire-Liberaler oder purer klassischer Liberaler ein Kartellamt oder andere Maßnahmen zur Beschränkung von Monopolen ablehnen würde, sind es in den Wirtschaftswissenschaften Neoliberale, die diese Maßnahmen einführen wollten. Insofern wäre bezogen auf Monopole der Tweet relativ eindeutig ideengeschichtlich widerlegbar.
Neoliberalismus und Marktgläubigkeit
Ausgehend davon lässt sich gerade auch ableiten, dass der Schritt vom Laissez-Faire-Liberalismus zum Neoliberalismus der Schritt von reiner Marktgläubigkeit, hin zum ersten kritischen Hinterfragen des Marktes war. Selbst in den Schriften von Hayek, unbestreitbar ein Autor, der die Ideale des Marktes hoch hält, lassen sich deutliche Belege dafür finden, dass es nicht bei allen Markttransaktionen zu effizienten Lösungen kommt, und deshalb ein (stark beschränktes) Eingreifen des Staates vertretbar und notwendig sein kann.
Aus dem ersten kritischen Hinterfragen des Marktes folgt dann die deutsche Form, des Neoliberalismus als Ordoliberalismus: Der Staat soll in diesen Fällen durch einen grundsätzlich ordnenden Rahmen, aber nicht durch Einzelmaßnahmen eingreifen. Das ist für mich als Ordoliberalen der Grund, warum ich einen Mechanismus, wie den Zertifikatehandel besser finde, als eine interventionistische Anordnung, dass jedes Unternehmen oder jedes Fahrzeug jetzt nur noch eine bestimmte Emission haben darf. Damit dürfte auch das naiv-vulgär-marktgläubig widerlegt sein. Ich sehe, dass mit der Weitentwicklung vom Homo Oeconomicus zum Homo Oeconomicus Instituionalis das kritische Hinterfragen von Marktstrukturen noch weit über die Neoliberalen hinaus gegangen ist, aber das würde a) hier zu weit führen und b) widerspricht es nicht dem grundsätzlichen Punkt, dass dieses Hinterfragen erst von Neoliberalen im liberalen Strang der Ideengeschichte forciert wurde.
Das waren die beiden relativ leicht faktenwiderlegten ideengeschichtlichen Fehler. Ich würde Herrn Grüger also durchaus zugestehen, dass er hätte er von „Laissez-Faire-Liberalen“ einen validen Punkte hätte, nur ist die Anzahl echter Laissez-Faire-Liberaler, die sogar den Ordoliberalismus als zu interventionistisch ablehnen, höflich gesprochen sehr überschaubar.
Wem übrigens meine Ausführungen nicht ausreichen, dem empfehle ich den Artikel zu Neoliberalismus in Gablers Wirtschaftslexikon nachzuschlagen (generell eine gute und anders als Wikipedia auch eine in wissenschaftlichen Arbeiten zitierbare Quelle zu Wirtschaftsthemen), die Definition dort:
„Denkrichtung des Liberalismus. Forderungen des klassischen Liberalismus werden aufgegriffen, das Konzept jedoch aufgrund der Erfahrungen mit dem Laissez-Faire-Liberalismus, sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften und dem konzeptionslosen Interventionismus, der spätestens seit Beginn des 20. Jh. die Wirtschaftspolitik der meisten marktwirtschaftlichen Ordnungen kennzeichnet, korrigiert. Betont wird wieder die Ordnungsabhängigkeit des Wirtschaftens und die Bedeutung privatwirtschaftlicher Initiative. Stärker als im klassischen Liberalismus, wird berücksichtigt, dass der Wettbewerb durch privatwirtschaftliche Aktivitäten bedroht ist, da sich ihm die Marktteilnehmer durch die Erlangung von Marktmacht zu entziehen versuchen. Daher soll der Staat den freien Wettbewerb aktiv vor dem Entstehen privatwirtschaftlicher Marktmacht wie auch vor staatlich verursachter Marktvermachtung schützen (s. Interdependenz der Ordnungen).
Die in der Bundesrepublik Deutschland vertretene Ausgestaltung des neoliberalen Konzeptes wird als Ordoliberalismus bezeichnet, der auf die in den 1930er-Jahren begründete Freiburger Schule zurückgeht.“
Wer es noch einfacher haben will, kann auch hier bei der Bundeszentrale für politische Bildung vorbeischauen.
Neoliberalismus und Totalitarismus
Etwas schwieriger ist die Verknüpfung von Neoliberalismus und Totalitarismus. Da die wissenschaftlichen Überschneidungen beider Begriffe kaum vorhanden sind. Ich würde an dieser Stelle aber dagegen halten wollen, dass gerade der Markt an sich, wenn er richtig funktioniert, die stärkste Form der Demokratie und damit das glatte Gegenteil von totalitär ist: Der Markt ist ein Mechanismus zur Entmachtung einiger weniger großer Marktteilnehmer und zum Sichtbar-Machen der vielen kleinen Marktteilnehmer
Während bei einem interventionistischen Ansatz oder im Sozialismus einige wenige Politiker oder Bürokraten entscheiden, was Preise und Mengen in der Produktion sein sollen, entscheiden in einem funktionierenden Markt alle Konsumenten und Produzenten, in dem sie ihre Preisbereitschaften nutzen. Es würde wahrscheinlich auch für ein oder zwei weitere Blogposts reichen, um das auszuführen, aber als Konzept sollte man es zumindest im Hinterkopf haben.
Jetzt kann man aus sozialdemokratischer Sicht sagen, dass Märkte nicht immer funktionieren. Das stimmt auch, aber genau das erkennt eben der Neoliberalismus erstmals an. Insofern hoffe ich auch dieses Argument widerlegt zu haben. Diesen Kritikpunkt würde ich insofern noch nicht einmal gegenüber dem Laissez-Faire-Liberalismus gelten lassen.
Wie gesagt: Ich werde damit nicht alle Sozialdemokraten, die den Begriff „Neoliberalismus“ (teilweise bewusst) ideengeschichtlich falsch verwenden, überzeugen, aber ich hoffe, den einen oder anderen, der es nur aus Versehen getan hat, mit diesem kleinen Ausflug in die liberale Ideengeschichte aufgeklärt zu haben.
Hinweis:
Leider bin ich gerade nicht an meiner wissenschaftlichen Literaturdatenbank, deshalb kann ich die Stelle von Hayek nicht exakt belegen, das kann ich aber bei Interesse gern von daheim Ende kommender Woche nachholen.
Die Überschrift wurde nach Kritik versachlicht.