Der Tag, an dem ein Pornoseitenbetreiber wegen der JuLis nach Kassel fahren musste
In loser Folge möchte ich über kuriose und besondere Momente (positiv wie negativ) in inzwischen fast 20 Jahren Politik berichten. Beginnen möchte ich mit einer der witzigeren Geschichten aus dem Jahr 2001. Spoiler: Es wird eine „Opa-erzählt-vom-Krieg“-Geschichte, aber das dürfte in dieser Rubrik fast immer der Fall sein.
Das Jahr 2001. Inzwischen ganz schön lange her. Man kann es sich nicht mehr so richtig vorstellen, aber das Internet hat damals in der Politik fast keine Rolle gespielt. Der damalige Bundesvorsitzende Daniel Bahr war damals so überzeugt, dass sich das Internet nicht durchsetzen wird, dass er den JuLis Hessen die Internetadresse www.junge-liberale.de überließ. Jeder Bundesvorsitzende danach hat darüber geflucht – mich eingeschlossen.
In dieser Situation waren die Jungen Liberalen Kassel-Stadt und -Land Vorreiter in Sachen neue Medien. Wir wollten nach dem Vorbild der erfolgreichen Kampagne der JuLis Stuttgart mit einer auffälligen Kampagne nur mit einer Internetseite Werbung für junge Kandidaten bei der Kommunalwahl 2001 machen. Themenschwerpunkt sollte dabei das Thema Generationengerechtigkeit und Verschuldung sein.
Um damit richtig aufzufallen wurden neon-orange Plakate mit schwarzer Aufschrift www.nackte-tatsache.de in Auftrag gegeben. Um noch mehr aufzufallen, färbte ich mir meine Haare orange (die anderen JuLis hatten es zwar auch versprochen, haben dann aber gekniffen. Und wir standen einmal nur in Boxershort vor einem Auftritt von Gerhard Schröder in Baunatal – es war Winterwahlkampf und saukalt.
Um das Ganze auf die Straße zu bringen, wurden am ersten Tag der Plakatierfrist in ganz Kassel und im Landkreis Kassel rund 300 Neon-Plakate aufgehängt. Soweit so gut, dachten wir.
Am Abend bekamen wir jedoch einen etwas merkwürdigen Anruf: Ein Hannoveraner Betreiber einer Pornoseite rief uns aus Kassel an, weil er einen aufgebrachten Anruf des Kasseler Ordnungsamtes erhalten hatte. Das Ordnungsamt hatte gefragt, wie er sich unterstehen könne, kassel-weit Plakate für seine Pornoseite ohne Genehmigung aufzustellen. Wir fragten uns spontan, was wir damit zu tun hatten, bis schließlich der Pornoseitenbetreiber herausrückte, dass ihm die Seite www.nackte-tatsachen.de gehöre und er jetzt in Kassel festgestellt habe, dass eine andere Seite, eben ohne ein „n“ plakatiert sei.
Da das Ordnungsamt der Stadt Kassel ihm aber unter Androhung eines Bußgeldes von mehreren tausend Mark (ja, liebe Kinder, damals gab es noch die D-Mark) aufgefordert hatte, die Plakate sofort (noch am Wochenende) zu entfernen, war er nach Kassel gefahren und hatte uns benachrichtigt.
Als wir den damaligen Leiter des Kasseler Ordnungsamt Herrn P. anriefen und fragten, warum er denn den Pornoseitenbetreiber kontaktiert hatte, stellte sich heraus, dass das Ordnungsamt – ohne selbst das Plakat zu sehen – auf Zuruf der Plakatierfirma der Grünen gehandelt hatte. Diese Firma hatte auch „freundlicherweise“ einige der aus ihrer Sicht pornografischen Werbehinweise entfernt und durch Grünen-Plakate ersetzt. Herr F. von der Firma D. war aber anders als das Kasseler Ordnungsamt durchaus zur Kooperation bereit und vor allem am Wochenende gut erreichbar.
Beim Kasseler Ordnungsamt hingegen stellte man auf stur. Ohne den eigenen Fehler einzusehen anschließend auf den Standpunkt, dass
- ein Plakat mit nur einer Internetseite keine Wahlwerbung sei,
- eine Partei auf dem Plakat genannt werden müsse,
- an falschen Orten plakatiert worden sei.
Erst nach einer Stellungnahme der hessischen Staatskanzlei und der Androhung, die fehlenden Lesefähigkeiten und das ungeprüfte Reagieren auf Zuruf eines politischen Wettbewerbers in den Medien zu thematisieren, ließ sich Herr P. von Punkt 1 abbringen. Auch wenn er vermutlich bis heute nicht einsieht, dass politische Parteien und nicht das Ordnungsamt entscheiden, was auf ein Plakat kommt und was nicht.
Bei Punkt 2 einigte man sich auf einen kleinen Aufkleber, mit dem man wirklich nicht mehr erkennen konnte als vorher, aber das Ordnungsamt befriedigt.
Bei Punkt 3 mussten wir einige Plakate umsetzen.
Insgesamt war es aber ein durchaus erfolgreicher Wahlkampf nach dem mit Tobias Jesswein in der Stadtverordnetenversammlung Vellmar und mir im Kreistag des Landkreises Kassel zwei JuLis in kommunalen Parlamenten saßen. Und alles ging los mit einem Pornoseitenbetreiber aus Hannover.
Für die beiden Kollegen in der Stadt Kassel hat es leider damals nicht gereicht. Das hatte etwas mit altem Fleisch und einem Shitstorm auch ganz ohne Internet zu tun. Aber das wäre eine andere Geschichte.
Die Seite www.nackte-tatsache.de ist übrigens eingefroren auf ihrem letzten Stand (inkl. Rechtschreibfehler auf der Startseite) immer noch erreichbar.